Gemeinsame Positionierung der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ), des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten (AdB), der Deutschen Sportjugend (dsj) und des Deutschen Bundesjugendrings (DBJR)
29.04.22
Damit im Hinblick auf den 2021 verabschiedeten Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter auch kinder- und jugendgerechte Perspektiven einfließen sowie non-formale und informelle Bildungsräume als gleichwertig anerkannt werden, stellen BKJ, AdB, dsj und DBJR gemeinsam Forderungen auf.
Seit der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie entwickelte sich in Deutschland der Ausbau von Ganztag(sschulen) dynamisch, in den Bundesländern aber sehr unterschiedlich. Vornehmlich sollte mit diesem Ausbau ein Beitrag zu mehr Bildungsgerechtigkeit geleistet werden. Der in 2021 verabschiedete Rechtsanspruch für Kinder im Grundschulalter verstärkt bzw. beschleunigt diese Entwicklung nun v. a. in jenen Ländern, in denen der Ganztag noch in den Kinderschuhen steckt. Er fordert zugleich andere Länder auf, die bereits eine hohe Ganztagsquote gewährleisten, weiter in die Qualität der Ganztagsbildung in der Grundschule zu investieren.
Der Ganztag hat nicht nur großen Einfluss auf das Aufwachsen junger Menschen – im Spannungsfeld zwischen der Förderung von Chancengerechtigkeit und der Institutionalisierung des Aufwachsens. Vielmehr beeinflusst er auch das Selbstverständnis und die Arbeit aller Träger non-formaler Bildung und zwar unabhängig davon, ob und inwieweit sie sich am Ganztag bzw. an Schulkooperationen beteiligen. Mit der Einführung des Rechtsanspruchs kommen neue Dynamiken und Herausforderungen, aber auch Chancen auf das Bildungssystem, die Kinder- und Jugendhilfe, die Trägerstrukturen außerschulischer (non-formaler) Bildung und das jeweilige Handlungsfeld der Umsetzenden zu.
Träger der non-formalen Bildung sind bisher in sehr unterschiedlicher Intensität und Weise in die Entwicklung und Gestaltung von Ganztag mit einbezogen. Die Realität der vielfältigen Zusammenarbeit mit Schule/im Ganztag ist, trotz gegenteiliger Forderungen, zumeist schulisch geprägt, mehrheitlich additiv organisiert und oft durch Dienstleistungsverhältnisse bestimmt. Kinder- und jugendgerechte Perspektiven oder die gleichwertige Anerkennung non-formaler und informeller Bildungsräume konnten sich bisher in der Fläche nicht durchsetzen. Im Zuge der Corona-Pandemie wurden zuletzt die scheinbare Verzichtbarkeit außerschulischer Angebote ebenso wie die Brüchigkeit vieler Kooperationsbeziehungen und die geringe infrastrukturelle Absicherung sichtbar.
Die Verbände der non-formalen Bildung fordern daher folgende Kernpunkte für die Umsetzung des Ganztags:
Ganztag als Raum für mehr Teilhabegerechtigkeit gestalten
Die bisherige Verankerung des gesetzlichen Anspruchs auf Ganztag wird stark von Betreuungsbedarfen und damit aus Sicht der Erwachsenenbedürfnisse geleitet. Es kann und darf nicht der Anspruch an den Ganztag sein, junge Menschen zu „verwahren“ oder nur zu betreuen. Ganztag für Grundschüler*innen muss als kindergerechter Bildungsort gedacht und umgesetzt werden. Es muss ein Ort sein, der Kindern viele Zugänge eröffnet, um ihre Freizeit zu gestalten, Interessen und Persönlichkeit zu entwickeln, sich zu bewegen, zu erholen und mit Freund*innen auszutauschen. Der Ganztag muss ein qualitativ hochwertiges und vielfältiges Angebot sein, das Teilhabegerechtigkeit unterstützt und einen Beitrag zu gleichen Bildungschancen leistet. Wir Verbände der non-formalen Bildung bieten daher gerne unsere spezifische Expertise an, um die schulischen Lerninhalte durch außerschulische Bildungs- und Erfahrungsräume zu erweitern.
Ganztag als Gemeinschaftsproduktion formaler und non-formaler Bildung verstehen
Formale und non-formale Bildung sind zwei sich ergänzende und unverzichtbare Bestandteile eines ganzheitlichen Bildungskonzepts, die ineinandergreifen und nicht nebeneinander stehenbleiben dürfen − im besten Fall beziehen sie sich aufeinander. Dabei müssen jedoch die Grundsätze, die non-formale Bildung auszeichnen, im System des Ganztags erhalten bleiben. Es gilt hierbei, Angebotsmöglichkeiten für nicht-hierarchische, ergebnisoffene Prozesse einzubinden und den Spagat zwischen Schul-Nähe und Schul-Abgrenzung im Ganztag zum Gelingen zu bringen. Durch eine enge strukturelle und inhaltliche Bindung an den Ort und das System Schule besteht die Gefahr, dass für Kinder und Jugendliche wichtige Elemente der non-formalen Bildung wie die Breite des Angebots für unterschiedlichste persönliche (Freizeit-)Interessen, selbstorganisierte Freiräume, gelebte Beteiligung, individuelle Förderung und eine inklusive Orientierung verloren gehen. Es sind aber genau diese Elemente, die Kinder und Jugendliche brauchen, um ihre eigenen Interessen und ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Sie müssen daher auch im Ganztag verankert werden.
Durch seine Verankerung im SGB VIII schafft der Rechtsanspruch eine Grundlage, dass Kinder- und Jugendhilfe in gemeinsamer Verantwortung mit dem Schulsystem den Ganztag umsetzt. Es geht daher darum, gemeinsam und partnerschaftlich ein verzahntes System aus formaler und non-formaler Bildung im Sinne einer guten und umfassenden Bildung für junge Menschen zu erreichen.
Während die Angebote im Rahmen des SGB VIII in die gesetzlich vorgeschriebene Jugendhilfeplanung, die Institution des Jugendhilfeausschusses und die für dessen Zusammensetzung notwendigen fachlichen, fachpolitischen und kommunalen Vernetzungsstrukturen eingebunden sind und hier auch eine Mitwirkung der Vertreter*innen und Strukturen der formalen Bildung geregelt ist, ist dies umgekehrt noch nicht immer der Fall. Hierfür müssen adäquate Lösungen geschaffen werden.
Infrastrukturelle Sicherung des Bildungsangebots im Ganztag gewährleisten
Um diese gemeinsame Verantwortung für und Gestaltung des Ganztags zu erreichen, braucht es eine dauerhafte und ausreichende finanzielle Absicherung der Strukturen der non-formalen Bildung. Nur finanziell abgesicherten Strukturen wird es gelingen, dauerhaft und verlässlich qualitativ gute Angebote aufrechtzuerhalten. Ganztag ist kein Projekt, sondern eine strukturelle Grundversorgung.
In den aktuellen Formaten non-formaler Bildung spielen Elternbeiträge eine wichtige Rolle bei der finanziellen Absicherung der Angebote. Um allen jungen Menschen gleiche Zugänge und gleiche Teilhabechancen zu ermöglichen, müssen Angebote im Ganztag von Elternbeiträgen befreit sein.
Das aus dem SGB VIII abgeleitete Fachkräftegebot für den Ganztag ist eine wichtige Grundlage, um die pädagogische Qualität zu sichern, soll aber nicht zur Verdrängung und Abwertung anderer Professionen und Expertisen führen. Hier sollte die gelebte und bewährte Praxis aus dem Handlungsfeld der Kinder- und Jugendarbeit aufgegriffen werden, die von einer guten Mischung aus Fachkräften unterschiedlicher Profession lebt – hauptberuflich wie ehrenamtlich.
Non-Formale Bildung muss auch außerhalb des Ganztags weiter bestehen
Non-Formale Bildung richtet sich nicht nur an Kinder der Primarstufe und nicht alle Träger der non-formalen Bildung werden in Kooperationen im Ganztag eintreten. Gleichzeitig ist abzusehen, dass die Sicherstellung des Rechtsanspruchs in den kommenden Jahren ein massiver finanzieller Kraftakt für Bund, Länder und Kommunen werden wird. Diese Mittel werden an anderer Stelle fehlen. Wir Verbände der non-formalen Bildung bekräftigen daher bereits jetzt, dass auch außerhalb des Ganztags weiterhin eine finanzielle Absicherung der Angebote non-formaler Bildung sichergestellt werden muss – im Sinne aller Kinder und Jugendlichen! Dies entspricht auch dem im SGB VIII verankerten Gedanken der Pluralität von Angeboten und Trägern und v. a. dem Wunsch- und Wahlrecht. Gelingende Ganztagsbildung findet auch statt, wenn junge Menschen für sich selbstorganisiert entscheiden, ihre Zeit bewusst außerhalb der Schule, z. B. in den Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit, zu verbringen.