Stellungnahme des Deutschen Kulturrates zur Umsetzung des Rechtsanspruchs für Ganztagsförderung in der Primarstufe
Berlin, den 23.03.2022. Der Rechtsanspruch von Grundschülerinnen und Grundschülern auf Ganztagsförderung gemäß SGB VIII muss ab dem Jahr 2026 flächendeckend in der gesamten Bundesrepublik umgesetzt werden. Grundlage ist das „Gesetz zur ganztägigen Förderung von Kindern im Grundschulalter“. Die Umsetzung ist eine große Herausforderung, denn längst sind noch nicht alle Schulen und Kommunen hierfür räumlich, infrastrukturell, personell und mit Blick auf Konzepte ausgerüstet. Auch gibt es in Deutschland erhebliche Unterschiede zwischen Bundesländern mit einer bereits gewachsenen Infrastruktur für den Ganztag und Bundesländern mit hohen Entwicklungsbedarfen.
Zugleich ist die Umsetzung aber auch eine große Chance, wenn von Anfang an Kinder und ihre Interessen und Bedürfnisse in den Mittelpunkt gerückt werden. Der Ganztag muss ein qualitativ hochwertiges Bildungsangebot vorhalten, das zur Bildungs- und Teilhabegerechtigkeit beiträgt, in dem Persönlichkeitsentwicklung, Kreativität und Diversität gefördert werden.
In den letzten Jahren hat es viele gute Ansätze gegeben, den Ganztag mit der kommunalen Bildungslandschaft zu vernetzen. Originäre Einrichtungen der kulturellen Bildung, Kultureinrichtungen und außerschulische Weiterbildungsträger sind fester Bestandteil der kommunalen Bildungslandschaft und vielfach treibende Kraft bei Kooperationen in der Ganztagsgestaltung. Sie sind zugleich Orte der künstlerischen und kulturellen Freizeitgestaltung junger Menschen, die sie selbstbestimmt und ihren Interessen entsprechend nutzen können. Bei der anstehenden flächendeckenden Implementierung des Ganztags in der Primarstufe sollte an bereits erfolgreiche Projekte angeknüpft und von gelungenen Kooperationen durch Wissenstransfer profitiert werden. Neben Erfolgsmodellen aus Bundesländern sollten auch die vielfältigen Erfahrungen aus dem Programm „Kultur macht stark – Bündnisse für Bildung“, das auf der Zusammenarbeit verschiedener Akteure beruht, genutzt werden.
Der Deutsche Kulturrat, der Spitzenverband der Bundeskulturverbände, positioniert sich mit dieser Stellungnahme erstmals zur anstehenden Implementierung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung in der Primarstufe und verweist zugleich darauf, dass im Ganztag neben und in Kooperation mit dem obligatorisch vorgesehenen Schulunterricht, namentlich den unabdingbaren Schulfächern Kunst, Musik und Theater zu denen sich der Deutsche Kulturrat jüngst positioniert hat[i], ein breites und qualitätsvolles Angebot Kultureller Bildung erforderlich ist, um gerechte Teilhabe an Kunst und Kultur zu ermöglichen und Bildungspotenziale wirksam werden zu lassen. Dabei kommt der Vielfalt des Angebots und der Träger eine herausragende Bedeutung zu. Grundschulkinder müssen die Gelegenheit haben, aus verschiedenen Angeboten, diejenigen auszuwählen, die ihren Neigungen, Interessen und Begabungen entsprechen bzw. zur Beschäftigung mit Neuem anregen und damit Interessen zu wecken. Darüber hinaus muss die Qualifizierung von Lehrkräften und außerschulischen Partnern für neue Aufgaben im Ganztag in der Grundschule gewährleistet sein. Der Deutsche Kulturrat meldet sich frühzeitig zu Wort, da die Vorbereitung und flächendeckende Umsetzung des Ganztags in der Primarstufe eines Vorlaufs bedürfen.
Qualitätsrahmen verbindlich gestalten!
Die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern in den Klassen 1 bis 4 (Primarstufe) ist eine Gemeinschaftsaufgabe, die die Zusammenarbeit von Akteuren aus den verschiedenen Politikfeldern, insbesondere Bildungspolitik, Jugendpolitik und Kulturpolitik, erfordert. Ferner müssen am Implementierungsprozess die unterschiedlichen staatlichen Ebenen, Bund, Länder und Kommunen sowie die Schul- und Hortträger, die Elternvertretungen und die außerschulischen Träger der kulturellen Bildung beteiligt werden. Das gemeinsame Vorgehen soll ermöglichen, auf der Basis von klaren Standards jeweils regional angepasste Lösungen zu finden.
- Der Deutsche Kulturrat begrüßt, dass im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien formuliert ist, einen gemeinsamen Qualitätsrahmen für die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztag in der Primarstufe gemeinsam mit Ländern und Kommunen zu entwickeln.
- Der Deutsche Kulturrat fordert, dass die Fachverbände der außerschulischen Träger kultureller Bildung in den Entwicklungsprozess eingebunden werden. Die außerschulischen Träger der kulturellen Bildung verfügen über vielfältige Erfahrungen im Ganztag. Im Wissenstransfer aus diesen Erfahrungen liegt eine große Chance für die Erarbeitung eines Qualitätsrahmens für den Ganztag in der Grundschule.
- Der Deutsche Kulturrat fordert weiter, den Erarbeitungsprozess für den Qualitätsrahmen Ganztag in der Primarstufe als Praxistest zu nutzen, um das im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien angekündigte Kooperationsgebot von Bund und Ländern in bildungspolitischen Fragen anzuwenden. Gemeinsam sollte zudem vereinbart werden, wie der Qualitätsrahmen verbindlich implementiert werden kann.
Mehr finanzielle Verantwortung durch den Bund!
Der Bund wird den Aufbau der Infrastruktur für den Ganztag in den Grundschulen mit bis 3,5 Milliarden Euro unterstützen und sich darüber hinaus auch an den laufenden Kosten beteiligen. Ab 2030 sind hierfür bis zu 1,3 Milliarden Euro pro Jahr geplant. Der Finanzbedarf soll 2027 und 2030 überprüft werden.
- Der Deutsche Kulturrat begrüßt, dass sich der Bund finanziell engagiert und bereits jetzt Mittel hierfür verbindlich vorgesehen hat.
- Der Deutsche Kulturrat sieht den Bund darüber hinaus in der Pflicht, sich auch mit Blick auf die Qualität der Bildungsangebote im Ganztag finanziell zu engagieren. Der geplante gemeinsame Qualitätsrahmen ist ein positives Signal in diese Richtung.
- Der Deutsche Kulturrat fordert den Bund ferner auf, die finanzielle Handlungsfähigkeit insbesondere der Kommunen bei der Umsetzung des Ganztags in der Primarstufe zu sichern.
Kooperationen gestalten!
Länder und Kommunen sind gefordert, die Weichen für die Umsetzung des Ganztags zu stellen. Die Ausgangsbedingungen sind hierfür in den Ländern sehr unterschiedlich.
- Der Deutsche Kulturrat fordert die Länder und Kommunen auf, den Ganztag in der Primarstufe nicht vorwiegend als Betreuung, sondern als ein eigenständiges, qualitativ hochwertiges Bildungsangebot auszugestalten. Daraus folgt, dass hierfür die entsprechenden finanziellen und personellen Ressourcen vorgesehen und bereitgestellt werden müssen, damit die Partner für den Ganztag ausschließlich nach Qualitäts- und nicht nach Preisaspekten ausgewählt werden.
- Aus Sicht des Deutschen Kulturrates zählt hierzu, dass die außerschulischen Träger der kulturellen Bildung im Ganztag entweder qualifiziertes Personal einsetzen, dass bei ihnen angestellt ist oder qualifizierten Honorarkräften verbindliche Mindesthonorare sowie Zeitkontingente anzubieten. Die Qualität der Ganztagsbildung lebt von der Qualifikation und dem Einsatz der Fachkräfte.
- Weiter hält es der Deutsche Kulturrat für erforderlich, dass eine Abstimmung zwischen Kultusministerkonferenz und Jugendministerkonferenz erfolgt und dass die Kultusministerkonferenz ihre Empfehlung zur kulturellen Kinder- und Jugendbildung weiterentwickelt. In den Ländern sind in Schulgesetzen und Ausführungsverordnungen zu SGB VIII die rechtlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Schulen und außerschulische Akteure sich Zuständigkeiten und Aufgaben teilen und Entscheidungen gemeinsam treffen.
Schule als Lebensraum gestalten und zum Sozialraum öffnen!
Die flächendeckende Einführung des Ganztags im Grundschulalter wird einen weiteren Beitrag dazu leisten, die Schule als Lebensraum für Lernende und Lehrende zu gestalten und sie zum Sozialraum zu öffnen. Viele Schulen haben bereits Vorbildliches geleistet, was als Orientierung für andere dienen kann. Andere machen sich jetzt auf den Weg und können dabei von den gesammelten Erfahrungen und dem Wissen profitieren. Das Gelingen des Ganztags hängt entscheidend davon ab, dass sich Schule und außerschulische Bildungsträger auf der Basis gut ausgestatteter Schulfächer – im Bereich der kulturellen Bildung insbesondere die Fächer Kunst, Musik und Theater – auf Augenhöhe begegnen und gemeinsam ein Bildungsangebot für den ganzen Tag entwickeln und umsetzen.
- Der Deutsche Kulturrat sieht daher die Schulen in der Verantwortung, zusammen mit den Trägern der außerschulischen Bildung ggfs. auch mit Trägerverbünden qualitativ hochwertige Ganztagsangebote zu entwickeln und umzusetzen.
- Der Deutsche Kulturrat appelliert, bei der Umsetzung des Ganztags in Bildungslandschaften und sozialräumlich zu denken, um so ein vielfältiges, qualitativ hochwertiges, von Fachkräften gestaltetes Angebot zu ermöglichen und Dritte Orte als Erfahrungs- und Lernräume einzubeziehen.
Potenziale kultureller Bildung nutzen!
Die Träger der kulturellen Bildung bieten den Schulen, Horten und Schulträgern, den Kommunen und den Ländern ihre Expertise und Erfahrungen an. Sie verfügen über die Konzepte, die Kompetenzen und das Personal, um den Ganztag in der Grundschule qualitativ hochwertig mitgestalten zu können. Sie verstehen sich als Teil von kommunalen bzw. regionalen Bildungslandschaften und bieten, da sie selbst schon ausdifferenziert sind, ein breites, die verschiedenen künstlerischen Genres und Erfahrungsräume umfassendes Portfolio an Angeboten.